The Falling leaf

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Interpretation des Gedichts "Lieder der Heimat" von Florian Schwöbel

 

Aus dem Zyklus "Lieder der Heimat"

 

In meiner Sehnsucht baute

Ich ein Haus aus Tagesresten

Überdacht mit den Erinnerungen

An den Sommer

 

So überaus mit sonderbarem Glück

Beseelt von fremder Hand

Überließ ich mein altes Leben

Dem wankelmütigen Wind

 

Nun bleibe ich hier auf immer

Kein Rufen wird mich ereilen

Und mir vom Leben erzählen

Das hätte meins sein sollen

 

© Ngoc-Phuong Tran

 

Interpretation:

 

Am Beginn steht die Sehnsucht. Sie ist die Emotion, die das Handeln

des Sprechers leitet, sein innerer Antrieb, seine Motivation.

„In meiner Sehnsucht“, heißt es hier, nicht etwa in ‚einer Sehnsucht’ oder‚

weil ich Sehnsucht hatte’. Die Sehnsucht ist für das Ich also keine bloße Anwandlung,

sie gehört zu ihm, er ist mit seiner Sehnsucht vertraut. Sie ist nicht ganz vage, sondern hat zumindest eine grob bestimmte Richtung.

Aber worauf richtet sich das schmerzliche Verlangen? Wonach dürstet es dem Ich,

das von einem sonderbaren Hausbau berichtet? Geht es ihm nur darum,

ein Haus zu haben? Und mit dem Haus etwas, das feststeht, unbeweglich, eine Im-Mobilie?

Etwas, das nicht schwankt und nicht umfällt? Geht es hier um eine schützende Behausung oder geht es um Heimat, um Zuhausesein, um Nähe und Geborgenheit?

Das Nicht-Materielle steht ganz offensichtlich im Vordergrund,

denn der Sprecher schildert, wie er „ein Haus aus Tagesresten“ baute,

„Überdacht mit den Erinnerungen / An den Sommer“. Also „Tagesreste[…]“ als Mauern,

ein Dach aus Erinnerungen? Was ist das für ein seltsames Gebäude,

das hier errichtet wird – oder besser: wurde?

Ein Rest ist, was übrig bleibt, nicht mehr gebraucht wird, vielleicht sogar Abfall.

Was bleibt von Tagen als Rest übrig? Es könnte ungenutzte Zeit sein,

Zeit die sich in der Erinnerung nicht gut anfühlt, Zeit, die man hätte anders nutzen wollen

oder sollen. Die „Tagesreste“ werden hier gewissermaßen als Baustoff materialisiert.

Sie werden nachträglich doch noch genutzt, aber so, dass es nur in der Vorstellung

möglich ist, im Traum, in der Sehnsucht. „Tagesreste“ sind weder Stein noch Mörteln,

lassen sich nicht anfassen, jedoch anfühlen.

Das Haus war „Überdacht mit den Erinnerungen / An den Sommer“.

Es geht hier demnach um bestimmte Erinnerungen an einen bestimmten Sommer.

Was sich in diesem wichtigen Sommer ereignete, was er in dieser Zeit getan und erlebt hat, verschweigt uns der Sprecher. Ein Sommer, warm und hell, eine Zeit der Freude?

Die Erinnerungen sollen als Dach, als Schirm und Schutz dienen.

Wovor sollen sie schützen: Vor den Unwettern der Gegenwart und der Zukunft? Vor Kälte,

Frost und trostlos ungenutzter Zeit? Ist das Haus am Ende ein Ort der Isolation,

der selbst gewählten Einsamkeit, die vor emotionalen Zumutungen schützt?

Vor der Realität, in der Häuser aus Stein oder Holz sind, in der die erinnerte Zeit vorbei

und nicht mehr greifbar ist, Versäumtes versäumt bleibt? Was hier beschrieben wird,

ist anscheinend ein Zufluchtsort.

 

„So überaus mit sonderbarem Glück / Beseelt von fremder Hand“,

so die ersten beiden Zeilen der mittleren Strophe.

Es kommt eine neue Emotion ins Spiel: „Glück“. Während Sehnsucht ein zweifelhafter

Genuss ist, auch Negatives wie Schmacht, unerfülltes Begehren, Schmerz, Wehmut,

Nostalgie mit sich bringt, ein Wollen-und-nicht-haben-Können, einen Mangel,

ist hier von – scheinbar – erfülltem „Glück“ die Rede. Scheinbar, denn es ist war starkes,

wiewohl „sonderbare[s] Glück“. Es fühlte sich seltsam, ungewöhnlich an.

Nicht von innen kam das Glücksgefühl, sondern „von fremder Hand“,

und der Sprecher war von ihm „Beseelt“. Ein fast unheimliches Moment,

ist doch nur von einer Hand die Rede, nicht indes von der zugehörigen Person.

Und die Person, wenn es überhaupt eine Person war und nicht nur eine diffuse Anwandlung,

war dem Sprecher nicht vertraut, sondern fremd. „Überaus […] beseelt“

war das Ich von diesem Glück, und dieser Zustand veranlasste es dazu,

„[s]ein altes Leben / Dem wankelmütigen Wind“ zu überlassen. Die „fremde[…]“

Hand manipulierte den Sprecher, hatte Einfluss auf ihn, vielleicht sogar Macht über ihn.

Und das Ich lässt sich manipulieren und Beeinflussen.

Somit hat die Handlung des Überlassens etwas Unfreiwilliges, Passives an sich.

Auch eine Prise Resignation mischt sich in diese Worte. Der personifizierte „wankelmütige[…]

Wind“ ist kein vertrauenswürdiger Partner. Man überlässt etwas Wichtiges nur jemandem,

dem man vertrauen kann, auf den man bauen und sich verlassen kann, erst recht,

wenn es sich um ein „Leben“ handelt. Es sei denn, man empfindet Gleichgültigkeit,

und die alte Wichtigkeit, der man seinem Besitz, seinen Habseligkeiten,

seinem „alte[n] Leben“ beigemessen hat, gilt nicht mehr.

Was passierte mit dem „alte[n] Leben“ des Sprechers? Auch das verschweigt er uns.

Er hat es der Willkür des flüchtigen Windes ‚anvertraut’, hat es wegwehen lassen,

und was damit passiert, stand und steht nun nicht mehr in seiner Macht.

Ist es das „Haus aus Tagesresten / Überdacht mit den Erinnerungen / An den Sommer“,

das hier hinweggeblasen wurde? Ist dies das alte Leben, welches das Ich aufgegeben hat?

Empfand der Sprecher Glück, eine Art Befreiung, als er die „Tagesreste“ und „Erinnerungen“ losgelassen hat, sich von ihnen ‚befreit’ hat? War es am Ende doch ein Glück,

ein schmerzlich-wohliges Glück der Trennung, ein Vernunft-Glück,

das keine Sentimentalitäten kennt?

 

Die letzte Strophe steht im Präsens. Wie sieht nun das ‚neue Leben’ des Ich aus?

Es verharrt an ein und demselben Ort, will nicht mehr weg: „Nun bleibe ich hier auf immer“.

Das Ich begibt sich in die Isolation, lässt keine Mitteilungen, keine Aufforderungen mehr an sich heran: „Kein Rufen wird mich ereilen / Und mir vom Leben erzählen /

Das hätte meins sein sollen.“ Das Wort „ereilen“ ist hier markiert, denn vom Verwendungszusammenhang passt es eher zu einem Schicksal, das einen ‚ereilt’,

und damit ist zumeist etwas Negatives gemeint. Die fremde Stimme, das „Rufen“ soll –

so will es der Sprecher – ihm nicht „vom Leben erzählen / Das hätte meins sein sollen“.

Die Lockrufe des ‚alternativen Lebens’, das der Sprecher hätte gelebt haben können,

das eigentlich für ihn bestimmt war – „hätte meins sein sollen“ – es will sie nicht hören.

Oder ist das Ich selbst der Meinung, dass das Leben, das die Rufe beinhalten,

hätte seines sein sollen? Auf jeden Fall steht nun hier, am Ende des Gedichts eine Absage an mögliche oder vermeintliche Alternativen im vergangenen Leben.

 

Welche Menschen sind dem Ich wichtig? Darüber schweigt es sich vollständig aus,

andere Personen kommen nicht vor, nur als „fremde[…] Hand“

und als befürchtetes „Rufen“. Verbindung mit anderen, Freundschaft, Liebe,

davon ist hier nicht die Rede. Vielleicht verweist das Schweigen gerade auf eine tiefe Wunde,

die das Ich in seiner Einsamkeit zu heilen hofft.

 

Vielleicht war es doch nicht das Haus, das weggeblasen wurde, sondern alles,

was außer „Tagesresten“ und „Erinnerungen / An den Sommer“

sonst noch an „alte[m] Leben“ übrig war.

 

© Florian Schwöbel

 

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